Bei Überlastung Einsturzgefahr

oder

Philosophie im Straßenbauamt

(unnötige Gedanken)

von
Anton Reutlinger

 

München 1/2008

In der Nähe meines Wohnortes steht an einer Bahnüberführung ein Schild "Bei Überlastung Einsturzgefahr". Es ist klar, was damit gemeint ist, also was gibt es da noch zu sagen. - Ist es wirklich so klar? Woran erkennt der Lkw-Fahrer die mögliche Überlastung? Daran, dass unter ihm die Brücke einstürzt? Man könnte die Aufschrift auch umkehren und sie wäre dadurch nicht weniger wahr: "Bei Einsturzgefahr Überlastung". Die Information für den Lkw-Fahrer wäre genau dieselbe. Nur die Absicht der Behörde, das was die Behörde meint ausgedrückt zu haben, wäre vermutlich nicht genau getroffen.

Der Druck der Lkw-Räder auf die Fahrbahn überträgt sich auf den Brückenkörper und erzeugt Spannungen, Drücke, Erschütterungen, Verbiegungen und Formänderungen in den Strukturen der Konstruktion. Die Einsturzgefahr besagt, dass der Einsturz ab einer gewissen Last wahrscheinlich, aber nicht zwingend, nicht determiniert, sondern kontingent, möglich ist. Die Brücke steht also in einer gewissen Relation zum Lkw. Die Relation ist nicht eindeutig, weil es viele verschiedene Lkw mit verschiedenen Lasten, Fahrgestellen und Achsen gibt, die unterschiedliche Lastprofile erzeugen.

Was bedeutet das Wort "Einsturz"? Der Einsturz einer Brücke ist ein sehr komplizierter Prozess. Man stelle sich den Donner, den Wirbel von Betontrümmern und Stahlfetzen, die Staubwolken vor. Vorgänge, die nur wenige Sekunden oder etliche Minuten dauern können, deren Ablauf in den Eigenschaften der Materialien begründet ist. Für die Form der Staubwolken und Trümmer gibt es keine konstruktive Erklärung. Sie entstehen aus dem Zufall des aktuellen Zustandes und des Ereignisses. Jeder Einsturz ist individuell, das Ergebnis ist doch fast immer dasselbe: die Brücke ist nicht mehr funktionsfähig, das Verkehrsnetz ist durch die fehlende Verbindung gestört. Das Wort "Einsturz" drückt in seiner Kürze also nur dieses einzige Ergebnis, diese einzige Information aus, nicht aber den Vorgang an sich. Aus Erfahrung wissen wir, bzw. können wir schlussfolgern, dass der Einsturz mit höchster Gefahr für Leib und Leben verbunden ist, wenn man sich zur fraglichen Zeit gerade auf der Brücke befindet. Von Videos einstürzender Brücken im Kino oder im Fernsehen kann man sich einen beliebigen oder besonders spektakulären Einsturz vorstellen. Man kann sich auch seinen Feind auf einer einstürzenden Brücke vorstellen.

Um solche Gefahren zu verhindern, haben sich Konstrukteure, Zulassungsbehörden und Benutzer etwas Feines ausgedacht. Die Einsturzgefahr wie auch die Überlastung werden objektiviert und standardisiert, so dass eine eindeutige Relation zwischen Brücke und Lkw hergestellt werden kann, die dem Lkw-Fahrer schon bei der Anfahrt die nötige Information als Hinweis und Warnung gibt, entsprechend der Absicht des Straßenbauamtes so wie dem Zweck des Schildes. Die Relation wird durch Einführung einer zusätzlichen Entität, einer von der Brücke und vom Lkw abstrahierenden Universalie, nun indirekt hergestellt: eine Gewichtsangabe im Sinne einer Höchstlast steht in eindeutiger Relation zur Brücke und zum Lkw. Sie ermöglicht die Kommunikation über beliebige Brücken und beliebige Lasten, egal ob Lkw oder Elefant.

Nun ist die Brücke jahrein jahraus den täglichen Belastungen ausgesetzt, die ihre Spuren im Brückenkörper wie in der Fahrbahn hinterlassen. Die Spannungen, Drücke und Verbiegungen können nicht ungeschehen gemacht werden, sondern sie bewirken als Materialermüdung Sprödigkeit und allmählich dauerhafte Formveränderungen, die über die Zeit kumulieren. Dazu verrichten Wind und Wasser ihre erodierende Arbeit an Stahl und Beton. Verminderte Leitfähigkeit der Materialien für physische Kräfte lassen Spannungen und Stress wachsen. Die Brücke lebt und verändert ihren Zustand unmerklich und unaufhaltsam. Der Bauplan gibt die Formen und das Aussehen vor, die Qualifikation der Bauarbeiter und die Qualität der Materialien bestimmen die Leistungsfähigkeit über die Lebensdauer hinweg. Irgendwann, eines schönen Tages, genügt möglicherweise schon eine kleine Last oder Erschütterung, um die Brücke zum Einsturz zu bringen.

Was hat das nun alles mit Philosophie zu tun?

Ich gehe über die Brücke und sehe die heranrollenden Lkw. Wegen des Schildes empfinde ich ein mulmiges Gefühl, je nachdem wie groß der nächste Lkw ist.

Die Aufschrift des Schildes bedeutet logisch <wenn Überlastung, dann Einsturzgefahr>. Intuitiv, auf Grund hoffentlich berechtigten Vertrauens in die Baukunst, gilt auch <wenn keine Überlastung, dann keine Einsturzgefahr>. Daraus folgt die logische Äquivalenz von Einsturzgefahr und Überlastung, somit die Tautologie und Redundanz des Schildes. Das Schild könnte an jeder Brücke stehen und das mulmige Gefühl könnte daher auf jeder Brücke aufkommen.

Einsturzgefahr und Überlastung sind weder Tatsachenaussagen, noch Prognosen, noch logische Schlussfolgerungen, sondern es sind Urteile oder Meinungen. Sie bedürfen nicht der Begründung, sondern der Rechtfertigung. Die Rechtfertigung kommt sowohl aus der grundsätzlichen Möglichkeit des Einsturzes als auch aus der Erfahrung vergangener Einstürze anderer Brücken und deren Kausalitäten. Einsturzgefahr wie Überlastung sind als Urteil über die Brücke also gerechtfertigt.

Ist auch die Warnung des Benutzers als kommunikative Handlung gerechtfertigt, d.h. ist die Aufstellung des Schildes gerechtfertigt? Das hängt selbstverständlich davon ab, wie hoch die Einsturzgefahr eingeschätzt wird, indem die tatsächliche Belastung im Verhältnis zur Belastungsgrenze beurteilt wird. Das Urteil kann somit auf objektive Tatsachen gestützt und mittels eines mathematischen Kalküls gefällt werden. Die Warnung ist dann gerechtfertigt, wenn Belastungen über der Belastungsgrenze aktuell möglich sind, wenn also damit zu rechnen ist, dass ein Lkw mit Überlast ankommt. Die Warnung zeigt jedoch nur Wirkung - als kommunikative Absicht der Behörde - wenn genau diese Lkw-Fahrer daran gehindert werden, die Brücke zu benutzen. Motivation, Situation, Rezeption und Interpretation der kommunikativen Handlung müssen aufeinander abgestimmt sein.

Je größer der ankommende Brummer, desto bedrohlicher die Geräusche, desto stärker das mulmige, beklemmende Gefühl und desto intensiver der instinktive Fluchtreflex. Die geometrische Form und das Geräusch wirken auf meine Sinnesrezeptoren und erzeugen Spannungen, Drücke und Verbiegungen in der Konstruktion meines neuralen Systems. Die innere Konstruktion reagiert unsichtbar mit Sekreten und Signalen, die in einem komplizierten Prozess auf die Organe des Körpers wirken und Erschütterungen hervorrufen. Die anatomischen Strukturen und die molekularen Strukturen der Proteine sind durch den genetischen Bauplan determiniert. Der Ablauf der Vorgänge wird von der Anordnung, den Funktionen und den Eigenschaften der biochemischen Materialien bestimmt. Das plastische oder gar flüssige Körperinnere bietet eine gute Leitfähigkeit für Substanzen und für Differenzen, für Informationen im abstrakteren und moderneren Sprachgebrauch. Wenn Leitungen oder Verbindungen ausfallen, dann ist das innere Verkehrsnetz gestört, mit vielfältigen Auswirkungen, wegen der extremen Komplexität des Netzes. Die körperlichen Reaktionen wirken über eigene Rezeptoren und zelluläre Signalkaskaden zurück auf das neurale System als Empfindungen und formen mit den Sinnesreizen "augenscheinlich" ein Bild der Welt und eine Vorstellung des möglichen Geschehens. Die Erwartung des Möglichen treibt mich weg von der Brücke. Panik ist jedoch unnötig, dafür sorgt die reale Straßenführung, die verhindert, dass Höllenmaschinen die Brücke einfach niederwalzen.

Ich teile mein Gefühl einem Freund mit. "Hast du etwa Angst?" ist seine lapidare Antwort. Offensichtlich kennt er solche Gefühle ebenfalls. Aber kann er wissen, wie sich mein akutes Gefühl anfühlt, was in meinem Körper vorgeht, was ich gerade denke, wie ich reagiere? Scheinbar gibt es eine objektivierte, standardisierte und notwendig abstrahierte Form dieses Gefühls, das als Angst eine Bezeichnung, eine Existenz als eigene Entität und Universalie bekommen hat und als Begriff jedermann bekannt und mitteilbar ist, weil alle menschlichen Konstruktionen sehr formgleich und weil viele ähnliche Erfahrungen gemeinsam sind. Dafür, dass das akute Gefühl phänomenal so erlebt wird, wie es ist, dafür gibt es jedoch keine konstruktive Erklärung oder Begründung, keine naturgesetzliche Kausalität. Es ist bestimmt von der biologischen Natur der Evolution, vom Zufall des individuellen Lebensweges, des aktuellen Zustandes und des Ereignisses. Weil das Gefühl wirksam ist, kann als Resultat die Einsturzgefahr vermieden oder rechtzeitig umgangen und unbeschadet überstanden werden. Die dadurch möglichen Nachkommen werden den Bauplan unfreiwillig übernehmen und mit ihrem eigenen Lebenszyklus ausfüllen.

Von der Brücke aus bietet sich bei Föhnwetter meist ein eindrucksvoller Anblick des Alpenpanoramas, besonders wenn morgens die ersten Sonnenstrahlen die nach Nordosten gerichteten verschneiten Berghänge erleuchten. Aus dieser sinnlichen Wahrnehmung entstehen beschreibliche und unbeschreibliche Gefühle: Erinnerungen an Aufenthalte auf Bergen und in Almhütten, der Wunsch nach Urlaub, bildliche Vorstellungen der Bergwelt, emotionale Assoziationen mit Bergschönheiten, Gedanken an Ewigkeit und Unendlichkeit und rauschhafte Entrückung der Gegenwart. Ein Wohlbefinden wie nach einem längeren Besuch im Biergarten direkt neben der beschriebenen Brücke, unter schattigen Kastanien, an einem heißen Sommertag. Die Gefühle entstehen unwillkürlich allein durch den Anblick, nicht aus dem Verstand wie die Angst. Sie induzieren kontingent die kumulierten Erinnerungen, diese dauerhaften Verbiegungen und Formänderungen der inneren Konstruktion, und bringen sie wieder in den Strom und Kreislauf des Bewustseins. Manche davon lassen sich Anderen durch Worte skelettartig mitteilen. Ich möchte da bleiben, wo ich gerade bin.

Da kommt die Bahn, die Gegenwart, die Vernunft, die Erwartung des Arbeitstages, die Notwendigkeit oder Unvermeidbarkeit des wirklichen Lebens.

---------------------