KOGNITIVE KYBERNETIK

 

Kurzfassung (Die vollständige Fassung ist hier als ebook erhältlich.)

Im Zeitalter des Global Positioning Systems für jedermann ist Kybernetik am anschaulichsten als untrennbare Kombination von Fahrzeugführung und Navigation mit Ortsbestimmung erklärbar. Charakteristikum für kybernetische Systeme ist die funktionale Kommunikation mit ihrer Umwelt und die autonome Entscheidungsfähigkeit. In Anlehnung an die von Norbert Wiener begründete Technische Kybernetik kann man die Funktionsweise der nichttechnischen, natürlichen Welt unterteilen in eine Physikalische und eine Kognitive Kybernetik mit charakteristischen Eigenschaften. Kognitive Lebensformen können auf Grund ihrer Sinnes- und Gedächtnisleistungen angeborene oder selbstbestimmte Ziele anstreben. Ihr Verhalten ist dementsprechend nicht nur von der Ausgangssituation, sondern vielmehr von der Zielsituation abhängig. Dieser Gegensatz steht hier im Mittelpunkt als "Inversion der Kybernetik". So kann der scheinbare Dualismus von Körper und Geist kybernetisch überwunden werden.

Im Zentrum der Kognition steht die individuelle Erkenntnis und Erwartung, die wesentlich von persönlicher Erfahrung und zwischenmenschlicher Kommunikation gespeist wird. Erfolgreiches Verhalten in einer unbeherrschbaren Umwelt setzt ständige Kontrolle der Umweltsituation und der eigenen Situation voraus. Dies geschieht in Form von Rückkopplung durch vielfältige Wahrnehmung und unwillkürlichen Vergleich mit gespeicherten Datenmustern und Signalen, sowie Interpretation der Wahrnehmungen durch Zuordnung von Bedeutung. Hinzu kommt die Auswertung der Wahrnehmungen als Erfahrung für künftiges, erfolgreiches Verhalten; das ist ein Merkmal von Intelligenz und ist Baustoff für Erwartungen. Die motorische Rückkopplung zur unmittelbaren Steuerung von Aktivitäten wird ergänzt durch eine kognitive Rückkopplung. Dazu ist die dynamische Formbarkeit des neuralen Apparates und ein "neuronaler Kreisverkehr" notwendig, in dem Verknüpfungen immer wieder neu gebildet werden können.

Im Gegensatz zur Technischen Kybernetik bleibt der neurale Apparat vom Anfang des Lebens bis zu seinem Ende in Betrieb. Nur so ist die kontinuierliche, quasi von Null ausgehende Entwicklung des kognitiven Apparates durch Akkumulation und dynamische Speicherung von Information möglich. Charakteristisch für kognitive Lebensformen ist die empfängergesteuerte Kommunikation mit der Außenwelt im Gegensatz zur sendergesteuerten Kommunikation ihrer Innenwelt, wie in der Physikalischen Kybernetik. Das für alle kognitiven Funktionen notwendige Gedächtnis wird ermöglicht durch die allgemeinen chemischen Gesetzmäßigkeiten und biologisch durch kommunizierende Prozesse, die gegenseitig Substanzen bzw. damit verbundene Signale in Form von Strukturänderungen austauschen, mit anhaltenden Gleichgewichtszuständen, oder allgemeiner mit stationären Zuständen.

Entscheidende Bedeutung hat die Redundanz der inneren Strukturen wie die der vielfältigen Wahrnehmungsformen. Sie ist es, die wie im Bootstrapping-Verfahren selbsttätiges, evolutionäres Lernen ermöglicht durch das Erkennen von Ähnlichkeiten, Zusammenhängen, Beziehungen und Gesetzmäßigkeiten, somit das fortwährende Erweitern von Bekanntem aus Unbekanntem und sie ist mit Sicherheit eine der physiologischen Bedingungen für Kognition und für Bewusstsein. Sie ist es auch, die trotz funktionaler und oberflächlicher Gleichheiten einen hohen Grad an Individualität ermöglicht.

Das Bestimmen und das Erreichen von Zielen sind die Komponenten der Intelligenz als Integration von Verstand und Vernunft des Individuums. Vernunft beschreibt und bewertet Beziehungen des Menschen zur Welt in Form von Handlungen, inklusive des Sprechens. Das Erreichen der gesetzten Ziele ist Gegenstand der Kybernetik und erfordert formales Wissen und rationalen Verstand, während die Bestimmung vernünftiger Ziele im Allgemeinverständnis die eigentliche Intelligenz mit Emotionalität, Kreativität, Intuition und Phantasie ausmacht und bis heute den Menschen von der Maschine unterscheidet.

Ebenso wenig wie man Semantik aus Syntax logisch ableiten kann, ebenso wenig kann man Zielsetzung aus Wahrnehmung logisch ableiten, denn Zielsetzung ist eine Konsequenz von Semantik und Wahrnehmung ist eine Konsequenz von Form und Syntax. Das bedeutet nichts anderes, als dass zwischen Reiz und Reaktion kein logischer oder gesetzmäßiger, sondern allenfalls ein empirischer Zusammenhang oder eine statistische Signifikanz bestehen kann, weil es nicht möglich ist, aus Wahrnehmungen allein durch Anwendung von Regeln, Algorithmen oder Maschinen zielgerichtete Handlungen abzuleiten. Tatsächlich werden die Ziele in der Technischen Kybernetik auf syntaktische Symbole reduziert und dem System von außen per Programm oder Konstruktion vorgeschrieben. Während in nichtmenschlichen biologischen Systemen ausschließlich die lebenswichtige Bedeutung von Wahrnehmung rezipiert wird, ist es beim Menschen sowohl Bedeutung als auch Form, so dass eine Transformation von Form zu Bedeutung notwendig wird, die Sprache und Bewusstsein ermöglicht bzw. darüber realisiert wird.

Ein kognitives System muss daher fähig sein, aus seinen Wahrnehmungen über Bedeutungen selbsttätig Erkenntnis und Wissen zu erwerben und zu formen, bzw. ein kognitives System wird gerade durch diese Fähigkeiten definiert. In dem Zusammenspiel von der Evolution vorgegebener redundanter Strukturen als Schablonen der sinnlichen Wahrnehmung und kommunizierender Prozesse ist das große Geheimnis zu suchen. Die Grundlage dafür bilden die reversiblen und wiederholbaren Wechselwirkungseigenschaften organischer Moleküle als Enzyme, Rezeptoren und Transmitter, die aus Sicht der Informationsverarbeitung logische Vergleiche und in Folge dessen Entscheidungen, logische Verzweigungen und strukturelle und zeitliche Transformationen als Erzeugung von Information bewirken. Im Unterschied zum Computer gibt es im neuronalen Netz keine Trennung zwischen Speicher und Prozessor. Das Gehirn ist keine Maschine, die Intelligenz und Gefühle oder Geist und Seele als Produkt erzeugt, sondern die Vorgänge im Gehirn selbst sind das Produkt.

Als Wirkungskreise und Wirkungsnetze erscheinen kommunizierende Prozesse nach außen wie Regelkreise und können so falsche Kausalrelationen vortäuschen und irrtümlich als Indiz für eine Teleologie des Lebens interpretiert werden. Organismen sind nicht Regelungssysteme, sondern hoch diversitäre Systeme lokaler, spezifischer Gleichgewichte; geprägt, immer bedroht und zur Reaktion angeregt durch die vielfältigen und unablässigen Einwirkungen (Maturana/Varela: Perturbationen) ihrer jeweiligen Umwelt. Regelungssysteme in Organismen würden Variation und somit die Evolution prinzipiell unmöglich machen. Rückkopplung ist nicht Konstruktionsprinzip, sondern zwangsläufige Konsequenz chemischer Reflexivität, Reversibilität, Spezifität, Selektivität und Komplexität sowie unterschiedlicher, periodischer und ununterbrochener Zyklen natürlicher Energiezufuhr und Energieabfuhr. Auf dieser Ebene, der Spezifität und Selektivität hochstrukturierter Moleküle, findet also die scheinbare Inversion der Kybernetik statt. Signale werden blockiert, verändert oder weitergeleitet, chemische Reaktionen werden gefördert oder gehemmt, biologische Prozesse bis hinauf zu Funktionen des menschlichen Geistes werden auf diese Weise eingeleitet, moduliert oder beendet. Hier findet der Übergang von der Physik zur Psychologie statt. Hier liegen die physiologischen Wurzeln für Zwecke, Ziele, Absichten, Wünsche, für Intentionalität. Operationale Kausalitäten bilden eine Zwischenschicht über den physikalischen Kausalitäten als begriffliche Grundlage des mentalen Systems und des Bewusstseins.

Somit ergeben sich für das Leben drei Hauptebenen funktionaler Beschreibungen:

  1. die materielle Ebene der Atome und Moleküle als physikalische Körper mit Zustands- und Bewegungsfunktionen und als chemische Substanzen mit Eigenschafts- und Transformationsfunktionen,
  2. die kybernetische Ebene der Signale und der Kommunikation mit Speicher-, Übertragungs- und Schalterfunktionen als operationale Kausalitäten, sowie
  3. die phänomenale Ebene der Signalwirkungen mit Gedächtnis- und Entscheidungsfunktionen für die Phänomene von Verhalten, Psyche und Geist sowie als Informationen und Symbole des Bewusstseins.

Nicht Materie an sich bringt Geist hervor, sondern das gesetzmäßige und regelmäßige Verhalten der Materie zueinander als Strukturbildungen und Strukturtransformationen unter der Wirkung der physikalisch-chemischen Kräfte und Energien. Dadurch wird eine eigene Sichtweise des Lebens als "kybernetischer Naturalismus" mit einer eigenen Sprachwelt geprägt. Es sind dies die Begriffe der Kybernetik wie Signal, Übertragung, Sender, Empfänger, Information, Kommunikation, System, Struktur, Zustand, Speicherung, Rückkopplung, Vergleich, Filter, Schablone. Auch Autopoiese und Kognition finden darin ihre biologische Begründung. Psyche und Sozialverhalten des Menschen schließlich sind nur beschränkt zu erklären mit Gesetzen und Werkzeugen der Kybernetik. Vorwiegend aus kulturhistorischen Gründen fristen sie noch immer ein Schattendasein zwischen rationaler Wissenschaft und Technologie einerseits und Aberglaube und Religionen andererseits. Wenn die Kognitive Kybernetik einen Zweck und eine Bedeutung in der Evolution hat, dann muss sie einen Beitrag zum struggle for life leisten, indem sie das psychische Wohlbefinden bzw. das "seelische Gleichgewicht" des kognitiven Individuums als optimistische Lebensperspektive mit dem Wunsch und der Möglichkeit zur erfolgreichen Fortpflanzung fördert.

Der Wissenschaftler konzentriert sich wegen der unüberschaubaren Komplexität des Organismus auf eine einzelne Wirkung als zu untersuchende Funktion und abstrahiert von den anderen, für die Funktionsweise und den Funktionszweck irrelevanten Wirkungen. Aber gerade in einem Organismus sind wegen der Komplexität alle Wirkungen von Bedeutung und können nicht ohne Informationsverlust vernachlässigt werden, weil sie Glieder in Ereignis- und Wirkungsketten sind. Das Fazit ist, dass die nebensächlichen Wirkungen von Materie auf Materie in Organismen extrem vielfältig und in ihren Erscheinungen weitestgehend unbekannt und unerklärlich sind. Die offene Frage, insbesondere bezüglich des Bewusstseins, ist die gegenseitige Wirkung materieller Substanzen als Phänomen. Daher wird hier als Bezeichnung dafür der Ausdruck "phänomenologischer Materialismus" gewählt.

Ein elementarer Prozess der Natur, der Evolution und des Lebens ist das Bootstrapping. Ein System muss aus einer Anfangsposition heraus sich selbst entwickeln, ohne Steuerung von außen. Die Bedingung dafür ist Redundanz, so dass aus jedem der instabilen Zustände im Verlauf der Entwicklung über Redundanz der jeweils nächste Zustand erreicht werden kann. Der Übergang von einem Zustand zum nächsten kann determiniert oder willkürlich sein, je nach Umfang und Bestimmtheit oder Unbestimmtheit der Redundanz. Jeder Zustandswechsel ist begleitet von der Erzeugung oder dem Import neuer Information aus der Umwelt oder aus der eigenen Systemkonfiguration. Die Entwicklung der Sprachfähigkeit wie auch die Evolution des Lebens und die Entwicklung des Individuums sind Beispiele für Bootstrapping-Prozesse.

Das zweckgebundene und zielorientierte Handeln des Menschen ist nicht ohne Regeln und Normen dauerhaft möglich, wenn in der Gemeinschaft Krieg, Zerstörung, Angst und Stress auf das unvermeidbare Maß beschränkt oder ganz verhindert werden sollen. Ethische Prinzipien sind daher unverzichtbarer und integrativer Bestandteil der Kognitiven Kybernetik. In Form einer materialen Wertethik müssen sie kompatibel sein zu deren Bedingungen und Mechanismen.

Die Gegenwart zeigt deutlich, dass der Mensch den durch ihn selber geschaffenen Konsequenzen und Erfordernissen der technisierten Welt evolutionär nicht gewachsen ist. Die Zersplitterung der Information durch die Arbeits- und Zuständigkeitsteilung der global industrialisierten Welt verhindert die Rückkopplung der eigenen Handlungswirkungen und verhindert dadurch das Bewusstsein für globale Verantwortung. Ohne eine Revolution seines Selbstverständnisses, seines Wirkungsbewusstseins und ohne die Erkenntnis und die Schaffung der dafür notwendigen kybernetischen Bedingungen droht ihm in absehbarer Zeit die Selbstauslöschung durch die unaufhaltsame Vernichtung seiner Lebensgrundlagen. Nur eine global angelegte Kybernetik mit Reflexion der Zielsetzungen vermag dies zu verhindern. Es gibt weder eine Verpflichtung noch eine Erfolgsgarantie für die Erhaltung der eigenen Art, die Bemühung jedoch zur Erhaltung der Lebensgrundlagen sollte aus Verantwortung für die Nachkommen als moralische und normative Herausforderung akzeptiert werden.

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