Krieg und Information

Autor: A. Reutlinger, München 4/1999

Krieg ist Kommunikation mit anderen Mitteln. Das leicht veränderte Zitat aus dem vergangenen Jahrhundert ist bezeichnend für das noch gegenwärtige Jahrhundert. Den Kriegen mit Bomben ist lange vorher der Krieg mit Schlagworten vorausgegangen.

Die derzeitigen Ereignisse auf dem Balkan entlarven wieder einmal die Selbstgefälligkeit und Selbstverherrlichung des modernen Menschen und offenbaren sein wahres Gesicht, nicht nur desjenigen auf dem Schlachtfeld. Überhöhte, idealisierte und unrealistische Selbstbildnisse und Moralvorstellungen fallen wie Kartenhäuser zusammen. Pazifist wird man nicht durch Selbsterklärung vor friedlichem Publikum, sondern nur durch geeignetes Verhalten in Konfliktsituationen. Hatte Thomas Hobbes vor etwas weniger als vierhundert Jahren vielleicht doch recht, als er den Mensch als des Menschen Wolf bezeichnete (nach damaligem Verständnis von Wölfen)? Hängt damit die sich immer wiederholende Beobachtung zusammen, dass Menschen gerne über andere Menschen herfallen, die wegen ihres Verhaltens oder einfach wegen ihres Daseins von einem Alphatier im Pelz eines Anklägers, Richters oder Reporters öffentlich zur Beute erklärt worden sind? Der Mensch ist jedenfalls das einzige Tier, das mehr Intelligenz hat als zum Leben notwendig ist - es bekommt ihm nicht sehr gut.

Der eine Schlüssel liegt in einem Erziehungs- und Bildungssystem, das im 18. Jhdt. steckengeblieben ist. Die Kinder werden vollgestopft mit vermeintlichem Wissen, mit vermeintlicher Kultur und mit vermeintlichem Humanismus. Glaub oder stirb ist das Prinzip nicht nur im Religionsunterricht, sondern auch in den natur- und den kulturwissenschaftlichen Schulfächern. Gegenstand des Geschichtsunterrichts sind Kriege, Könige und Kirchen mit Märtyrer- und Heldenidealen und höchst fragwürdigen Werten und Tugenden. Wissenschaftsgeschichte dagegen, als Erfolgs- und Irrtumsgeschichte des Denkens und der Erkenntnisse der Menschheit, wird kaum gelehrt. Skepsis und Forschergeist, Umgang mit Kritik und Irrtum, sowie Übung in Dialektik werden nicht gefördert. Die jungen Menschen kennen vielfach keinen Unterschied zwischen Glauben, Wissen und Wahrheit, so dass zwischen religiösem, esoterischem oder ideologischem Hokuspokus und wissenschaftlicher Erkenntnis nicht unterschieden wird. Sie werden dazu verführt, Bestätigung zu suchen anstatt Erkenntnis. Gesellschaftliche, unhinterfragte Traditionen, Konventionen und Meinungen bewirken daher leicht die persönliche Identifikation mit Phrasen, Symbolen und Idolen, deren Infragestellung oder Gefährdung dann als Angriff auf die eigene Persönlichkeit aufgefasst wird mit entsprechend hysterischen, aggressiven oder depressiven Reaktionen. Allzu oft glauben Menschen ihre Idole verteidigen oder ihnen gefallen zu müssen und geben dafür ihre Persönlichkeit und sogar ihr Leben preis - oder zerstören anderes Leben. Vermutlich sind es noch Reste archaisch-sozialer Verhaltensformen, die hier zum Vorschein kommen. Die elterlichen, vermeintlich modernen Erziehungsziele wie Selbstbewusstsein, Selbstbehauptung, Durchsetzungskraft und Durchsetzungswille bewirken eher psychische Komplexe der Minderwertigkeit oder der Höherwertigkeit mit fatalen Tendenzen zur Aggression. Auf diesem geistigen Untergrund gedeihen prächtig abstruse Ideologien, Sekten, Kulte und so verhängnisvolle Mythen wie der Amselfeldmythos in Serbien. Aber keineswegs nur dort, auch in unserem Land gibt es unter der Wohlstandsglasur genügend Mythen mit latentem Aggressionspotential. Rechtsradikale und Linksautonome sind nur die offensichtlichsten Beispiele.

Der andere Schlüssel liegt in der Entwicklung, die mit Gutenbergs Buchdruck, mit Bells Telefon und Marconis Funk begonnen hat und sich in der letzten Jahrhunderthälfte lawinenartig fortgesetzt hat: die Loslösung der Information von ihrem physischen Substrat. Sie lässt sich nun beliebig zwischen verschiedenen Medien und zwischen verschiedenen Orten zu jeder Zeit übertragen und vervielfältigen, filettiert aus ihrem Zusammenhang, befreit von lebensnotwendiger Redundanz. Information ist zur Handelsware geworden und hat damit ihre eigentliche Funktion der zwischenmenschlichen Kommunikation eingebüßt. Durch die Eigenheiten mancher Medien wird die Welt abstrahiert bis zur Sinnlosigkeit und auf Schlagworte reduziert, die beliebig missverstanden, missdeutbar und missbrauchbar sind. Es ist keineswegs die Masse der Information, die den Menschen zunehmend Schwierigkeiten bereitet, sondern die Flüchtigkeit und Vergänglichkeit, die fehlende Eindeutigkeit und die Widersprüchlichkeit, die Unvollständigkeit und Ungenauigkeit, alles in allem ihre schwindende Verlässlichkeit. Die Sprache kann die an sie gestellten Erwartungen nicht mehr erfüllen. Stress und Überforderung sind die Folgen und verleiten zu einer Flucht in die "einfachen Wahrheiten" von Religionen, Heilslehren und Ideologien. Der Mensch handelt prinzipiell nicht rational auf Grund von Informationen und Fakten, sondern überwiegend "pararational", d.h. intuitiv, emotional oder präfixiert auf Grund von Illusionen und Assoziationen, die er sich im Verlauf des Lebens durch Wahrnehmungen und Informationen gebildet hat und die von Schlagworten suggestiv ausgelöst werden. Der inflationäre Gebrauch von Superlativen und der tägliche Missbrauch des Wahrheitsbegriffes haben intellektuelle Verflachung und verzerrte Weltbilder zur Folge. Es ist vorhersehbar, dass Ängste, Psychosen, Aggressivität, Gewalt, Amokattacken und Selbsttötungen auf lange Sicht merklich zunehmen werden.

Der dritte Schlüssel zur gesellschaftlichen Entwicklung liegt in einer übermäßig negativen Berichterstattung der Massenmedien - in der "Verdichtung des Negativen". Tägliche Berichte über Kriege und Katastrophen, Kriminalität und Korruption, Amigos und Amtsmissbrauch, wie auch übertrieben einseitige Kritik erzeugen Misstrauen und Missgunst gegen jedermann bis hin zum Hass auf einzelne Gruppen und auf die führenden Personen der Gesellschaft. Öffentliche Rufe nach Schutz, Sicherheit und härteren Strafen führen zur Vergötterung des Rechts und des Gesetzes und zum juristifizierten, bürokratisierten und repressiven Straf- und Hyperrechtsstaat. Neue Gesetze sind Aktivitätsnachweis für Politiker und Arbeitsplatzgarantie für Angehörige staatlicher Institutionen. Dass viele Politiker, Funktionäre und Verwaltungsbeamte Juristen sind, ist kein Zufall und verstärkt den Trend zusätzlich. Selbstgefällige, ideologisierte und moralisierende Juristen wie auch sklavische Gesetzesgläubigkeit führen nicht selten zu grotesken, lebensfeindlichen und menschenunwürdigen Rechtsentscheidungen, Gesetzen und Vorschriften. Der Gipfel dessen ist das anmaßende und patho(s)logische, s(pr)achlich völlig widersinnige "im Namen des Volkes".

Auch die öffentlichen Medien müssen sich fragen, in welcher Weise sie Mitverantwortung tragen an der gesellschaftlichen Entwicklung, um Tragödien wie in Jugoslawien wenigstens nicht zu fördern. In Deutschland ist die Sportberichterstattung von Kriegsberichterstattung kaum zu unterscheiden (Kampf, Gegner, Schlachtfeld, Granaten, Bomben, Geschosse usf.). Selbst demokratische Prozesse werden noch nach fünfzig(!) Jahren Demokratie mit Kriegsvokabular, zumindest mit negativ besetzten Begriffen, beschrieben: Wahlkampf, Abstimmungsschlacht, Streit, Konflikt, Zank, Duell, Feinde und manch andere. Parteiinterne, demokratische Kandidaturen werden als Machtkampf diffamiert. Über Politik- und Demokratieverdrossenheit darf man sich daher nicht wundern. Der nachlässige, schlampige und häufig inkompetente oder unqualifizierte Gebrauch der Sprache, besonders in den Fernsehmedien, hat suggestiv und psychologisch katastrophale Auswirkungen. Ein prägnantes Beispiel dafür ist die beiläufige und meist völlig überflüssige Angabe der Nationalität von Drogendealern oder Gewalttätern ("türkisch", "albanisch"), die bei ausreichender Wiederholung unmittelbar zum verallgemeinernden Fremdenhaß führen muß. Diese sprachliche Ausdifferenzierung von Gruppen ist nicht zuletzt eine der Ursachen für den Massenmord an unseren jüdischen Mitbürgern. Daß man mit Sprache sorgfältiger umgehen kann, ist ausgerechnet in Österreich zu beobachten, wo anstatt des deutschen, kriegerischen Wettkampfes der friedliche und treffende Begriff "Bewerb" verwendet wird, der auch als Ersatz für den Wahlkampf geeignet wäre. Da eine Geisteshaltung nicht mit einer Rechtschreibreform zu ändern ist, sind die gesellschaftlichen Multiplikatoren in der Pflicht. Man kann Journalisten und Publizisten sicher nicht generell Verantwortungslosigkeit anlasten, aber mangelndes Wirkungsbewusstsein allemal. Medienkritik mimosenhaft abzuwürgen mit dem stereotypen Hinweis auf die Pressefreiheit und die bloße Pflicht zur passiven Berichterstattung ist nicht genügend und absolut nicht professionell. Eines der Probleme ist, dass öffentliche Medien alles, nur nicht sich gegenseitig "in die Pfanne hauen": eine menschenverachtende Medienmaschine kennt keine Selbstkritik. Die völlige Vermischung von Information und Unterhaltung seitens der Medien, aber auch seitens der Politiker als deren Nutznießer, hat absehbare, problematische Konsequenzen für die Gesellschaft.

Moralisierende Medienkritik aber ist nicht nur nutzlos, sondern auch autoritär und führt allzu schnell zur willkürlichen Zensur. Auf dem unaufhaltsamen Weg in die geschwätzige, aber sprachlose Gesellschaft ist das Allerwichtigste die Erziehung zum richtigen Umgang mit den modernen Informationsmedien, nicht nur im technischen und kommerziellen Sinn, sondern vielmehr im psychologischen Sinn! Eines der Hauptziele dabei ist das Erkennen der suggestiven Wirkung der Medien mit der Konsequenz psychischer, unbewusster Manipulation. Der Konsum von Information muss so qualitätsbewusst werden wie der Konsum von Toilettenpapier. Skepsis und Gelassenheit sind wesentliche Eigenschaften des mündigen Konsumenten. Angebot und Nachfrage auch von Informationen als den Produkten der Emotionsindustrie beeinflussen sich gegenseitig. Die Zauberworte der Menschheit heißen, trotz aller Nachteile: Medienvielfalt, Freiheit und Transparenz der Information und - in leichter Abwandlung eines bekannten Werbespruches - Aufklärung, Aufklärung, Aufklärung; denn die Entwicklung ist nicht revidierbar und die Evolution entlässt nicht ihre Kinder.

Ideologien wie Religionen muss man nicht bekämpfen, sondern nur dazu bringen, ihre Ideen, Praktiken und Ziele offen zu legen: unter dem Zwang der Realitäten und in der Evolution der Ideen werden sie mangels rationaler Begründungen und vor allem mangels nachweisbarer Erfolge friedlich untergehen. Leider aber gehören Ausübung und Demonstration von Stärke oder Macht über Mitmenschen immer noch zu den zentralen und bevorzugten Mechanismen in Pädagogik, Politik und Gesellschaft. In manchen Formen, verbrämt in beschönigenden Formulierungen, finden sie obendrein öffentlich Anerkennung und Bewunderung, obwohl sie nicht selten nur Tod, Verderben und Zerstörung nach sich ziehen.

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