Logik der Ökonomie
Autor: A. Reutlinger; München 8/1998
Die Wirtschaftspolitik in Deutschland steckt in der Krise. Die Zahl der Arbeitslosen ist ein trauriger Beleg. Besserungen sind nicht in Aussicht. Selbst die "Wirtschaftsweisen" strotzen vor Hilflosigkeit. Die klassischen Formen staatlicher Wirtschaftspolitik, d.h. Nachfragepolitik oder Angebotspolitik, scheitern. Die Kritik am Kapitalismus wächst. Deshalb möchte ich in kurzer Form einige Ideen beschreiben, was getan werden könnte.
Auch die Wirtschaft unterliegt Naturgesetzen. Der Mensch arbeitet im allgemeinen nicht aus purer Langeweile oder zum Spaß, sondern um die lebensnotwendigen, die lebenserleichternden und die lebensverschönernden Güter herzustellen oder zu beschaffen. Die Verfügbarkeit solcher Güter bestimmt den Wohlstand und von daher die Motivation und die Ziele der Ökonomie. Menschliche oder maschinelle Arbeit ist notwendig, um die Güter erstmalig oder wiederholend zu produzieren, da sie durch biologisch bedingten Verbrauch, durch Konsum, Zerstörung, Verschleiß und Alterung verschwinden oder unbrauchbar werden. Mit steigendem Volksvermögen ist folglich ein stetiges Wirtschaftswachstum notwendig, um die damit ebenfalls steigenden Verluste auszugleichen. Jede Arbeit kann letztlich auf menschliche Arbeit zurückgeführt werden, da auch Maschinen erst geschaffen werden müssen, bevor sie eingesetzt werden können. Selbst Rohstoffe müssen erst gefördert werden, bevor sie genutzt werden können. Ein hoher Anteil an zusätzlicher, "unproduktiver" Arbeit ist notwendig für Handel, Logistik, Verwaltung und viele andere Dinge. Der Wert und die Nutzungsdauer aller Güter einer Volkswirtschaft bestimmen den Wirtschaftsbedarf einerseits und die Wirtschaftskraft andererseits. Hohe Ausstattung an langlebigen Gütern - also hohe Nutzungsdauer - senkt den Produktions- und den Arbeitsbedarf, der andererseits durch neue oder modifizierte Produkte und Dienstleistungen sowie neue Märkte (Export) gesteigert werden kann. Dabei stammt das Bruttosozialprodukt heute - im Gegensatz zu früheren Zeiten - überwiegend aus der Produktion der beiden letzteren Gütergruppen, also aus ersetzbaren und verzichtbaren Gütern. Dadurch wird die Ökonomie letztlich zu einer irrationalen, theorieresistenten Veranstaltung!
Staatliche Nachfragepolitik, d.h. Ausgabenpolitik bzw. Fiskalpolitik zur Ankurbelung der Wirtschaft und der Beschäftigung, wie sie von John Maynard Keynes propagiert wurde und vorwiegend von der politischen Linken vertreten wird, würde ihre Wirkung mangels Güterbedarf weitgehend verfehlen; abgesehen von der Tatsache, daß der Staat keine finanziellen Freiräume hat für größere Ausgaben. Keynes mit seinem deficit spending ist nur wirksam in der Frühphase wirtschaftlicher Entwicklung und kann daher für die Industriestaaten ad acta gelegt werden.
Die von Milton Friedman begründete Angebotspolitik, die sich in der Zins- und Geldpolitik der Bundesbank manifestiert und die als Monetarismus bezeichnet und vorwiegend von der politischen Rechten vertreten wird, verliert ebenfalls ihre Wirksamkeit, wenn durch die Globalisierung die Konkurrenz und der Preisdruck auf der Angebotsseite übermächtig werden. Die derzeit historisch niedrige Inflationsrate hat sogar die Bundesbank (in dieser Hinsicht) arbeitslos gemacht.
Ursache für die hohe Arbeitslosigkeit in Deutschland sind nicht die hohen Arbeitskosten, sondern die hohen Kosten für Arbeitsplätze, die besonders in Ostdeutschland die Ansiedlung kleiner Unternehmen behindert haben. Löhne und Gehälter für Arbeit sind nur ein Teil davon. Ein anderer Teil sind die Kosten für Umweltschutz, Naturschutz, Landschaftsschutz, Denkmalschutz, Verbraucherschutz, Gesundheitsschutz usw. Eine wohl typisch deutsche Eigenschaft dabei ist der Hang zum selbstgefälligen Perfektionismus mit der damit verbundenen starren und störrischen Bürokratie, die das Flair des Obrigkeitsstaates noch immer nicht ganz überwunden hat. Weiteren Anteil an den Arbeitsplatzkosten haben indirekt die Preise für Wohnimmobilien, die aus Gründen der deutschen Wohnkultur nicht flexibel sind und daher wiederum die Unflexibilität der Löhne und Gehälter zur Folge haben. So kann die deutsche Wirtschaft nicht rasch genug auf die Veränderungen durch die globale Öffnung reagieren.
Ein zusätzliches Problem entsteht für unsere Wirtschaft und Gesellschaft dadurch, daß größere, konsensabhängige Projekte kaum mehr durchsetzungsfähig sind. Garzweiler II und Transrapid sind Beispiele dafür, wie Vorhaben von durchaus legitimen Partikularinteressen blockiert werden können. Gesellschaftlicher Konsens bzw. Dissens sind bisher unterschätzte Wirtschaftsfaktoren, die sich gelegentlich als Standortvor- oder -nachteile bemerkbar machen.
Die inhaltsleeren Phrasen kompetenzfreier Politiker und Funktionäre von Wirtschaftswachstum und Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft sind ebenfalls keine Lösung, denn gesundbeten hat bisher nicht geholfen und wird es wohl auch weiterhin nicht können. Also was tun? Den Kopf in den Sand stecken und resignieren? Die Probleme werden weiter wachsen, wenn die sogenannten Tigerländer ihre auf Halde produzierten Güter zu Dumpingpreisen auf den europäischen Markt werfen. Interessant ist zu beobachten, wie auch geheiligte Kühe lautlos geschlachtet werden, wenn die nackten Hühner nicht mehr gerupft werden können.
Selbstverständlich gibt es Auswege aus der sogenannten "Globalisierungsfalle". Nicht der klassische, sondern ein modernisierter Keynes ist notwendig. Nicht der Staat muß die Nachfrage ankurbeln, sondern die Gesellschaft selbst. Sparkapital ist genügend vorhanden, aber es muß zielgerichtet gelenkt werden. Dazu ist notwendig, vermutlich zum Entsetzen vieler Experten, daß der Staat die Steuersätze im wesentlichen beibehält! So wird es möglich, durch gezielte, deutliche Steuernachlässe (Subventionen!!) Kapital in gewünschte Richtungen zu lenken. Es sei unmißverständlich herausgestellt, daß der Staat nicht als Planungs- und Steuerungsbehörde für die Unternehmen fungieren soll, sondern vielmehr den Markt der Möglichkeiten erweitern soll. Ein starker und bürokratischer Staat blockiert und lähmt die Gesellschaft durch untätige Zuständigkeit.
Der akademische, aber entscheidende Aspekt ist, daß die freie Marktwirtschaft zwar individuelle Interessen, nicht jedoch gesellschaftliche Belange fördert und befriedigt. Aus diesem Grund sind reine Marktwirtschaft und radikaler ökonomischer Liberalismus gesellschaftlich zum Scheitern verurteilt, auch wenn die Marktwirtschaft unter allen Wirtschaftsmodellen dem wirtschaftlichen Handeln des Menschen am besten gerecht wird. Es geht um nichts geringeres als um eine neue Wirtschaftstheorie bzw. ein neues Wirtschaftssystem, das in Ergänzung zur klassischen Marktwirtschaft die Individualinteressen und die Gesellschaftsinteressen systemkonform verknüpft. Das entscheidende und geeignete Instrumentarium hierfür ist das Steuersystem. Auch für die Wirtschafts- und die Gesellschaftstheoretiker, die diesen Aspekt bisher vollständig vernachlässigt haben, die im Gegenteil den Begriff der Subventionen öffentlich geächtet haben, wäre also Beschäftigung gesichert, sofern sie zum Umdenken gewillt und nicht ideologisch arretiert sind. Im Gegensatz zum schwerfälligen und mißbrauchsfördernden Subventionsapparat sind allerdings subtilere und vor allem flexiblere Steuerungs- und Kontrollmechanismen notwendig, ohne dabei jedoch die Bürokratie aufzublähen.
Es ist ein Instrumentarium zu schaffen, das die marktwirtschaftlichen Mechanismen adaptiert, indem Anreize, d.h. Kapitalrendite und Gewinnchancen, geschaffen werden zur Produktion gesellschaftsrelevanter, öffentlicher Güter und zur Erbringung solcher Leistungen. Zur Finanzierung kapitalintensiver Vorhaben wären Investmentfonds zu gründen, deren Investitionen und Erträge durch Steuerbegünstigung attraktiv gemacht werden gegenüber der Rendite konventioneller Anlageformen. Im Grunde genommen sind es alte Hüte, aber es fehlen wohl die Phantasie und der Mut, den Hut einmal anders aufzusetzen.
Dazu eine kleine Auswahl konkreter Beispiele:
Gemeinsam ist diesen Vorschlägen, daß sie ortsgebunden, einige auch höchst arbeitsintensiv sind, so daß die Beschäftigung im Inland gefördert wird, und daß sich die Dauer der Vorhaben über etliche Jahrzehnte erstreckt.
Für viele gesellschaftlich nutzbringende und wichtige Vorhaben - besonders in den Sozial- und Jugendbereichen, aber auch in Kunst und Kultur - wäre ausreichend individuelles Interesse bzw. Motivation und sogar Kapital vorhanden, aber die apriori zu erwartende Rendite ist zu gering, um eine Unternehmensgründung als lebensfähig erscheinen zu lassen, während die Rendite für das laufende Unternehmen aposteriori oftmals hoch genug wäre, um bestehen zu können und auch um rentable Folgeprojekte zu initiieren. Hier könnte der Staat ein immenses Wirtschaftspotential erschließen, indem er durch Steuervergünstigung eine "Renditebrücke" schaffen würde, um Kapital und Arbeit in solche Vorhaben zu locken. Dann würden nicht nur Unternehmer, sondern auch Privatbürger als Arbeitgeber auftreten. Leider wird dieser Aspekt von der klassischen Volkswirtschaftslehre kaum gewürdigt. Andererseits gibt es in den Gesellschaftswissenschaften seit mehreren Jahren Diskussionen zu interessanten Ideen wie Bürgergeld und Bürgerarbeit (U. Beck, J. Mitschke, H. Pelzer u.a.), die in den Medien und in der politischen Öffentlichkeit bisher jedoch kaum ein Echo gefunden haben.
Häufig werden die Kosten eines Vorhabens als Argument zur Verhinderung desselben vorgebracht (z.B. Transrapid, Eurofighter). Dabei wird völlig verkannt, daß gerade die Kosten und die Ausgaben der Motor der Wirtschaft sind. Meist von denselben Leuten werden im gleichen Atemzug staatliche Beschäftigungsprogramme gefordert. Während im privaten Bereich das Risiko, das Abenteuer und der Nervenkitzel nicht hoch genug sein können, wird im öffentlichen Bereich jedes Risiko abgelehnt (z.B. Euro, Gentechnik). Die offenkundigen Widersprüche scheinen aber nicht ins Bewußtsein zu dringen! Wenn das Fahrrad nicht schon erfunden wäre, es hätte in Deutschland heute keine Chance mehr.
Die Kritik am Kapitalismus beruht auf Unkenntnis und Unverständnis ökonomischer Zusammenhänge, auf Verwechslung von Begriffen und auf der Ohnmacht vor der Undurchschaubarkeit des Gesamtgeschehens. Ihr Hauptmotiv ist das emotionale Bedürfnis, scheinbar Verantwortliche für die Probleme als konkrete Anklageobjekte dingfest zu machen und sich selbst moralisch freizusprechen. Die Haupttriebkraft der Ökonomie, der Eigennutz des Einzelnen, ist in der öffentlichen Meinung moralisch verpönt, weil er mit darwinistischem Egoismus verwechselt wird. Es ist aber naiv und unsinnig, Naturgesetze zu ignorieren oder abzulehnen, nur weil sie unliebsam, unverstanden oder kompliziert sind.
Die Probleme und die Schwächen der Marktwirtschaft sind nicht so sehr in ihren Prinzipien, sondern in folgenschweren Fehlern bei ihrer Anwendung zu suchen. Hervorzuheben sind die fehlende Verantwortung von Aktionären oder Anteilseignern für die Aktivitäten ihres Unternehmens, darüber hinaus die Unterbewertung kollektiver Kosten für Umwelt-, Gesundheitsschäden und dergleichen, die Fokussierung der Konsumenten auf den Preis einer Ware anstatt auf ihre Werte - besonders die nichtmonetären Werte - und die Abschottung der Information zwischen Produzent und Konsument als Folge extrem arbeitsteiliger, mechanisierter Industrieformen. Die Gründe hierfür liegen nicht im System, sondern in der Schwerfälligkeit der gesellschaftlichen Führungs- und Bildungsmechanismen gegenüber dem individuellen Einfallsreichtum und dem dadurch hervorgerufenen rasanten Wandel der Technologien mit den zu beobachtenden Konsequenzen für Ökonomie und Kultur. Es ist die Ignoranz gegenüber menschlichen Eigenschaften, bzw. ihre Abwälzung auf das System als Kapitalismus, die die Marktwirtschaft gefährdet. Unternehmen sind nicht anonyme, asoziale Gebilde, sondern werden von Menschen bevölkert, deren Ausbildung und deren Wertvorstellungen zu Entscheidungen und zu Handlungen führen, die das Bild der Ökonomie und der Gesellschaft bestimmen.
Die reine Marktwirtschaft jedoch weist einige gravierende Mängel auf, die nur mit gesellschaftspolitischen Maßnahmen, aber systemgerecht auszugleichen sind. So wurde aus gutem Grund die sogenannte soziale Marktwirtschaft eingeführt, die bereits zwischen den Weltkriegen erfunden (E. Heimann, F. Oppenheimer), aber damals noch nicht als solche bezeichnet wurde. Trotzdem sind aber noch viele Verbesserungen dringend notwendig. Durch den Einsatz von Maschinen wird zunehmend menschliche Arbeitskraft freigesetzt, die jedoch in höherwertigen, aber anspruchsvolleren Bereichen wieder eingesetzt werden kann. Mit der dafür notwendigen, zunehmenden Qualifikation wächst auch der Wert des Arbeitnehmers! Dazu bedarf es einer aktiven, gestaltenden und modernen Gesellschaftspolitik ("Gesellschaftsdesign", "Gesellschaftsmanagement"), mit höchster Priorität für ein grundlegend reformiertes, anforderungsgerechtes Bildungssystem. Hier müssen kürzere, überschaubare Bildungsabschnitte geschaffen werden ("Qualifikationsbaukasten"), die über die Lebenszeit verteilt werden, so daß eine schnellere und gezieltere Anpassung der beruflichen Qualifikation an Arbeitsmarkt und neue Technologien möglich ist.
Das Denken mancher Menschen ist in vorindustriellen Verhältnissen steckengeblieben, als Arbeit ausschließlich dem Überleben diente. Heute jedoch im Zeitalter der 30-Stunden-Wochen wird Arbeitskapazität frei zur freiwilligen, selbstbefriedigenden Tätigkeit der Menschen. Man kann dem Bürger nicht verbieten, auch in seiner Freizeit in irgendeiner Form tätig zu werden, häufig zum indirekten Nutzen für die Gesellschaft. Deshalb muß es gelingen, klassische Erwerbsarbeit und freiwillige Tätigkeit ordnungspolitisch zu integrieren, um die enormen, brachliegenden Kapazitäten für die Gesellschaft nutzbar zu machen, ohne aber den Menschen Freiheit und Motivation gleichzeitig wieder zu nehmen. Eine mögliche Lösung dafür wäre die Einführung einer staatlichen Grundrente für jeden Bürger an Stelle und in Höhe der bisherigen, antragsgebundenen (deshalb menschenunwürdigen) Sozialhilfe. Die Idee ist weder neu noch revolutionär, bietet aber viele Vorteile, und die bekannten Gegenargumente, hauptsächlich der blanke Neid, daß jemand ohne zu arbeiten leben könnte, sind wenig rational.
Ein gravierendes Problem dieser Gesellschaft sind die öffentliche Mißgunst und das öffentliche Mißtrauen, die von den Massenmedien unbewußt und von manchen Politikern bewußt gefördert und zum Hauptmotiv ihrer Politik gemacht werden.Typisch dafür ist das Schlagwort vom "Sozialmißbrauch". Die Gewinne von Unternehmen sind als "Profit" bereits zum Schimpfwort mit unmoralischem Beigeschmack geworden. Die Folge davon ist eine nutzlose Vermehrung von gesetzlichen Verboten und Behinderungen, die nicht nur unternehmerische Tätigkeit erschweren, sondern auch zur Lähmung und Erstarrung der Gesellschaft führen, wie auch Frustration und radikale Ausbruchsversuche einzelner Gruppen hervorrufen. Einer der größten Irrtümer liegt darin, Gerechtigkeit mit Gleichheit zu verwechseln und zu glauben, daß man in einer pluralistischen Gesellschaft Gerechtigkeit erreichen kann - man kann nur manche größere Ungerechtigkeiten verhindern und manche kleinere Ungerechtigkeiten kompensieren.
Niemand wird Patentrezepte oder Allheilmittel vorweisen können, aber es gibt eine Menge Arbeit, um dieses Land lebenswerter zu gestalten und es gibt eine Fülle von Möglichkeiten etwas zu bewirken, anstatt in Apathie zu verharren oder nur zu lamentieren, zu protestieren und zu obstruieren. Veränderungen kosten Mut und Geld - Nichtstun kostet die Zukunft! Der Bürger braucht aber nicht Moralappelle, sondern Motivation und Freiraum zum Handeln.
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